Bäcker mit Laib und Seele
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Das Geheimnis der Nordseewellen

Das Jahr war den Dithmarschern einst nicht hold gewesen. Das Frühjahr hatte noch spät Frost und Schnee gebracht. Der Sommer hingegen war ungewöhnlich heiß und trocken gewesen, und seit dem Herbst tobte bis in den Februar hinein ein Sturm nach dem anderen. Ein schlechtes Jahr für die Landwirtschaft, und ein schlechtes Jahr für den Küstenschutz, denn kaum waren die Schäden nach einer Sturmflut an den Deichen notdürftig behoben, so kam schon das nächste Sturmtief. Nun waren die Dithmarscher durchaus so einiges gewohnt, aber so hart hatte es sie noch getroffen. Die Speisekammern waren fast leer, die Felder standen unter Wasser. Und in See stechen und auf Fisch- oder Walfang konnte man auch nicht gehen, ohne Leib und Leben zu riskieren.
Da war guter Rat teuer und in der Not wandten sich die Dithmarscher an den Herrn Pastor. „Beten müsst ihr, ihr Ungläubigen!“, sprach er. „Lasst ab von eurem heidnischen Glauben!“
Nun gut, so zogen die Dithmarscher also brav Sonntag für Sonntag in die Kirche und hörten sich die Predigten an und gaben sich Mühe, dem rechten Glauben zu folgen. Nur änderte dies nichts an ihrer Lage. Und deshalb trafen sich heimlich die Ältesten jeder Gemeinde und berieten sich, was zu tun sei.
Bäcker Kalle, eigentlich kein Mann des Aberglaubens – aber das Korn zum Backen ging auch ihm bald aus – schlug vor, doch einmal die alte weise Frau aufzusuchen, die abseits tief im Riesenwohld, unweit der legendären Fünffingerlinde wohnte. Diese Linde hat die Form einer Hand und soll, so erzählen sich die Legenden, die Schwurhand eines unschuldig Gerichteten gewesen sein.
Aber nun gut, in ihrer Verzweiflung machten sich fünf Dithmarscher auf den Weg zu ihr, um sie zu befragen, wie man das Schicksal wieder mild stimmen könne.
„Was wollt ihr hier, ihr kommt doch sonst nicht“, begrüßte sie unwirsch die Gesandten. Sie legten ihr ihre Not dar und baten sie um Rat. „Nun“, sprach diese, „das ist eigentlich einfach. Ihr müsst nur eure alten Götter wieder milde stimmen, allen voran Njörd!“
Njörd, so erinnerten sich die Dithmarscher, wurde einst als Wind- und Meeresgott, aber auch als Fruchtbarkeitsgott und Schutzgott der Seefahrer und Fischer angebetet.

„Ja, so ist es“, sprach die Alte, „und wer ihn wohlgesinnt stimmt, dem gewährt er freigiebig Güter, Reichtum, Erfolg beim Fischfang und beim Ackerbau“.
„Aber was müssen wir tun?“, fragten die Dithmarscher verzweifelt.
„In drei Tagen zur Vollmondnacht bringt ihr hierher zur Fünffingerlinde eine Opfergabe, etwas, das ihr nur für Njörd ersonnen habt, etwas, das es noch nicht gab – dann werdet ihr sein Wohlwollen erhalten. Aber erzählt dem Pastor nichts davon!“
Die Dithmarscher Ältesten machten sich auf den Heimweg und berieten sich. Was sollte man so einem Gott geben? Jeder grübelte schwermütig vor sich hin. Plötzlich durchzuckte Kalle eine Eingebung. Warum nicht eine Backware, die aus allem Guten bestand, was das Land zu bieten hatte, und obendrein eine Hommage an die raue See war, kreieren?
„Freunde“, sprach er, „ich wage es!“ Und sofort eilte er in seine Backstube. Zunächst mischte er einen Rührteig mit Weizenmehl, Eiern, Zucker und einer Margarine aus gutem einheimischen Rapsöl. Dann färbte er einen Teil des Teiges mit Kakao dunkel. Dazu rührte er eine Creme zusammen und holte noch die letzten eingelegten Sauerkirschen aus dem Keller. Nun gab er zunächst den hellen Teig in die Form, dann den dunklen und ließ da hinein die Kirschen einsinken. Durch deren Einsinken entstanden wellenförmige Verwirbelungen im Teig. Nach dem Backen gab er noch die Creme darüber, eine ebenfalls kakaohaltige Glasur, der er mit einer Gabel ein Wellenmuster verlieh.
Damit trat er am nächsten Tag vor die Dithmarscher.

„Ein Kuchen, ja und?“
„Passt auf!“, rief er und schnitt die Torte in rechteckige Stücke und schob sie auseinander. Ein Raunen ging durch die Menge. „Das sieht ja aus wie Wellen!“ „Ja, so hatte ich mir das vorgestellt!“, sagte Kalle. „Und ich nenne das Backwerk: Nordseewellen!“
Und bestückt mit den neuen Nordseewellen eilten die Dithmarscher in der nächsten Vollmondnacht zur Fünffingerlinde. Die Alte erwartete sie schon und vollzog das heilige Ritual. Erst geschah gar nichts, dann erhob sich plötzlich ein Rauschen und Brüllen wie von einem gewaltigen Sturm und mitten im Wald verschlang eine große Welle das ganze Blech mit den Nordseewellen. „Nun geht nach Hause, ihr werdet merken, ob eure Gabe Wohlgefallen bei Njörd fand!“, sprach die Alte.
Und tatsächlich, schon der nächste Tag brachte ruhiges, sturmfreies Wetter. Und so sollte es das ganze Jahr bleiben. Die Ernte fiel phantastisch aus, die Fischer holten Krabben und Fisch aus dem Meer, das die gesamte Westküste hätte ernähren können, und die Bäume bogen sich unter der Last ihrer Früchte.
Und auch wenn heute schon lange keine heidnischen Gottheiten mehr angebetet werden, Bäcker Kalles Nordseewellen sind immer noch legendär köstlich.

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